15.04.2025
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In der Höhle

Zuerst hatte er sich in den unzähligen Gängen der Höhle verirrt und dann hat auch noch seine Taschenlampe den Geist aufgegeben. Ohne den geringsten Lichtstrahl, der vielleicht etwas Orientierung bieten würde, sitzt er auf dem kühlen Boden und lehnt sich an die felsige Wand. Auch sie: kühl und feucht. «Verloren in der Geborgenheit der Höhle», denkt Janis.

Geborgen, wie im Bauch der Mutter. Verloren, weil niemand da ist, der ihn Richtung Ausgang pressen wird. Er muss sich selber helfen, muss den Weg suchen, der ihn wieder auf die Welt bringt. Janis lehnt sich zurück und lauscht auf die Geräusche des Berges. Er hört ein leises Bling. Ein tropfendes, klirrendes Bling, das sich rhythmisch wiederholt. Als ob der Berg einen Herzschlag hätte.

Wasser und Herzschlag – was braucht es mehr zum Leben als diese beiden Dinge? Janis lauscht und gibt sich der beruhigenden Wirkung der tröpfelnden Melodie hin. «Eine gute Gelegenheit zu sterben», denkt er. Hineinsterben in die Geborgenheit des Berges. Oder sich aufmachen auf den Weg zum Licht der Welt? Janis atmet tief ein und aus, riecht den modrigen Höhlenduft und erinnert sich an die verschiedenen Gerüche, die draussen auf ihn warten. Gerüche von gekochtem Essen, Blumenduft, einem dampfenden Miststock. Ja, er will hinaus. Will sich aus eigener Kraft hinauskämpfen aus dem Uterus des Berges.

Er fühlt einen feinen Luftzug, ein ganz klein wenig wärmer als die ihn umgebende Luft. Das ist der Hinweis, den er gesucht hat. In diese Richtung muss er gehen, tastend voranschreiten und wenn nötig auch kriechend. So lange, bis der Berg ihn wieder ausspuckt in das glänzende Licht der Welt.

© Bernadette Gisler
Bild generiert mit ChatGPT