Irgendwo am Rand der Wüste lebte einst ein Ziegenbock. Noch vor Kurzem führte er ein glückliches und freies Leben. Zusammen mit den anderen Ziegen war er unterwegs in der kargen Landschaft und ernährte sich von magerem Gras und nagte genüsslich an Sträuchern. Er genoss sein einfaches Leben, bis er eines Tages eingefangen und in einen Stall gesperrt wurde. Traurig stand er da, kaute nun an fettem Gras und an Küchenabfällen, welche die Menschen ihm zu essen gegeben hatte.
Wieso schaust du so traurig aus?“ piepste eine kleine Maus. Sie war durch ein Loch in der Mauer in den Stall geschlüpft und betrachtete ihn aufmerksam. „Du hast einen warmen Stall, genug zu fressen und vor den wilden Tieren bist du auch geschützt.“
Ja, das ist schon wahr“, antwortete der Ziegenbock, „aber ich wurde von meiner Herde getrennt und bin nun ganz allein. Und die Menschen haben nichts Gutes mit mir vor. Sie werden mich mit ihren Sünden beladen und in die Wüste schicken. Aber meinen Kollegen hat es noch schlimmer getroffen. Er soll geopfert werden. Ich habe zumindest eine kleine Chance, dass ich in der Wüste überlebe - sofern ich nicht von wilden Tieren gefressen werde oder verhungere.“
„Was haben die Menschen gegen dich, dass sie dir so etwas antun?“
„Sie haben nichts gegen mich. Es ist einfach ein uraltes Ritual, welches die Menschen jedes Jahr durchführen. Sie glauben, dass sie sich damit von all ihren Sünden befreien können. Als Ziegenbock musst du damit rechnen, dass es dich irgendwann mal trifft und dieses Jahr haben sie mich auserwählt.“
Während der Ziegenbock und die Maus in ihre Unterhaltung vertieft waren, hatte sich eine Eule zu ihnen gesellt. „Aber das ist doch nicht richtig – jeder soll zu seinen Fehlern stehen und dafür die Verantwortung übernehmen, statt sie anderen aufzuladen! Wir müssen etwas dagegen unternehmen.“ Schicksalsergeben antwortet der Ziegenbock: „Es war schon immer so, ist heute so und wird auch künftig so sein. Sündenböcke wird es immer geben.“ „Das ist unfair“, erwiderte die Eule. „Du musst die Erwartung der Menschen nicht erfüllen und ihre Sünden für sie tragen. Zusammen finden wir einen Weg, wie du dem entgehen kannst.“
Inzwischen war eine ältere Katze zu ihnen in den Stall gekommen. Sie hatte schon viele solcher Feste miterlebt und konnte daher gut beschreiben, was an diesem Tag ablief. „Zuerst legt ein Hohepriester beide Hände auf den Kopf des Sündenbocks und überträgt alle Sünden symbolisch auf ihn. Anschliessend führt ihn ein auserwählter Mann in die Wüste und lässt ihn ohne Schutz und Nahrung zurück.“ Die Maus, die Katze und die Eule beratschlagten, wie sie den armen Ziegenbock vor dieser drohenden Sündenlast beschützen könnten. Sie könnten dem Ziegenbock in der Wüste helfen und ihn später wieder zu seiner Herde zurückführen. Aber noch besser wäre es, früher einzuschreiten und den Hohepriester daran zu hindern, das Ritual durchzuführen. Denn niemand sollte die Sünden der anderen in die Wüste tragen müssen.
„Ich kann mit meinen Freunden das Seil annagen, an dem der Ziegenbock angebunden wird. Dann braucht es nur einen kleinen Ruck und er ist frei“, piepst die Maus. „Und ich werde eine kleine Flugschau über den Köpfen der Zuschauer veranstalten, das wird sie ablenken. Menschen sind es nicht gewohnt, tagsüber einer Eule beim Fliegen zuzuschauen“, schlägt die Eule vor. „Und ich werde genau im richtigen Moment vor dem Hohepriester durchspringen, so dass er über mich stolpert und hinfällt“, ergänzte die Katze.
Und genau so ist es dann am nächsten Tag geschehen. Der Ziegenbock konnte sich befreien und zu seiner Herde zurückkehren. Die Menschen aber staunten über die vielen Zufälle, welche dieses Jahr das Sündenbock-Ritual verhindert hatten.
© Bernadette Gisler
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