20.10.2024
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Tango Argentino: Wenn zwei Seelen sich im Tanz berühren

Der Tango Argentino ist mehr als nur ein Tanz. Er ist Musik, Leidenschaft, Umarmung und Sehnsucht. Und wer so richtig in seine Welt eingetaucht ist, weiss dass er noch vieles mehr ist: gesungene und getanzte Poesie, welche die Seele berührt.

Was sind das für Leute, die Tango tanzen?
Was das für Leute sind?
Träumer. Irgendwie Träumer
(aus der Zeitschrift ‚du‘, 1997)


Der Tango Argentino entstand Ende des 19. Jahrhunderts in den armen Arbeiter- und Einwandererviertel von Buenos Aires und Montevideo. Es waren Orte, an denen Menschen verschiedener Kulturen zusammenkamen und viele alleinstehende Männer lebten. Es gab weniger Frauen und nicht viele von ihnen waren bereit, in der Öffentlichkeit zu tanzen. Um den Tango zu lernen und zu üben haben oft die Männer miteinander getanzt. Auf Straßen, in Hinterhöfen oder auf freien Plätzen. Das Tanzen mit anderen Männern bot eine Gelegenheit, die Rolle des Führenden zu perfektionieren, um später dann die Frauen zu beeindrucken. Mit der Zeit und der wachsenden Popularität des Tangos wurde das Tanzen zwischen Männern weniger üblich.
Als Tanzlokale boten sich Bordelle, Tavernen und anderen zwielichtigen Lokale der Arbeiterklasse an. Diese Orte boten oft die Möglichkeit, in einem intimen und engen Raum zu tanzen, was zur charakteristischen engen Umarmung und sinnlichen Bewegungen des Tangos führte. Die Atmosphäre dieser Lokale trug zur Entstehung der melancholischen und leidenschaftlichen Natur des Tangos bei.

Der Mann führt, die Frau folgt: so war die Regel. Diese Rollenverteilung prägte den Ruf, der Tango Argentino sei ein Macho-Tanz. Bereits die Aufforderung zum Tanz geschieht jedoch gleichberechtigt über Augenkontakt, eine gegenseitige Einladung und Aufforderung zum Tanzen, elegant und rücksichtsvoll - eine stumme Vereinbarung zum nächsten Tanz. Augenkontakt und anschließendes Nicken sind eine traditionelle argentinische Verführungsart, die sich bis heute in den Tangolokalen erhalten hat. Wer nicht tanzen möchte, wendet seinen Blick ab. Nur auf der Basis dieser Gleichberechtigung funktioniert der Tango und mit zunehmender Erfahrung wird alles möglich. Während des Tanzens übernimmt zwischendurch die Frau die Führung, sie bestimmt das Tempo und die Zeit, die sie für ihre Verzierungen braucht. Der einfühlsame Mann wartet auf den Moment, wo er wieder übernehmen und neue Impulse setzen kann. So entsteht eine wunderbare Harmonie. 
Die starre Regelung, dass der Mann führt und die Frau folgt, ist heute aufgebrochen. Vielleicht aus der Not geboren, weil der Anteil der Frauen an den Milongas meist viel höher ist als derjenige der Männer. Aber auch aufgrund des gesellschaftlichen Wandels hin zu mehr Gleichberechtigung. Beim Open-role-Tango werden die Geschlechterrollen aufgehoben und jede bzw. jeder kann unabhängig vom Geschlecht beide Rollen übernehmen.

Die Leichtigkeit im Tanz entsteht dadurch, dass jeder offen ist für den anderen. Offen auch für Fehler, die es im Tango eigentlich gar nicht gibt – denn sie sind der Grund für die Improvisation.

Die Umarmung

Die Melancholie deiner Musik berührt mein Herz.
Sie erzählt von Liebe, Leidenschaft und Enttäuschung.
Ich lasse mich in deine Umarmung fallen,
getragen von deinen Rhythmen folge ich dir bedingungslos


Wenn der Cabeceo, der Augenkontakt gelingt, nicken sich die Tanzpartner zu, stehen auf und treffen sich auf der Tanzfläche, wo sie die Umarmung, den ‚Abrazo‘ aufbauen. Dies geschieht sorgfältig und bewusst und schafft eine stabile und harmonische Verbindung. 
Der Abrazo ist das Herz des Tangos, der erste Schritt, bevor der eigentliche Tanz beginnt. Der Tango wird ohne gesprochene Anweisungen und fest vorgegebenen Figuren getanzt, die Umarmung ist entscheidend für die Kommunikation und das Verständnis zwischen den Partnern. Sie bildet den Rahmen für den gemeinsamen Tanz und gibt gleichzeitig Raum für Improvisationen.

Die Musik

Wenn du wüsstest,
dass ich in meiner Seele noch immer jene Zuneigung bewahre,
die ich einst für dich empfand...


Dies sind die ersten Zeilen von ‚La cumparsita‘, dem ‚Tango aller Tangos‘: Ein Klassiker, der bereits über 100 Jahre alt ist und als einer der bekanntesten, meistgespielten und weltweit meistverbreiteten Tangos gilt. 
Der Musiker und begeisterte Tanguero Kurt Ernst beschreibt ihn so: „Es ist ein Stück, das wehmütig macht. Für die Tanzenden gibt es verschiedene Deutungsformen, entweder wird der Beat getanzt, oder die Solis, oder die wunderbaren Pausen, die dem Stück einen unwiderstehlichen Reiz geben. Der durchgehende Beat wird immer wieder unterbrochen von Generalpausen die wie eine Frage ‘Was jetzt?’ wirken. Die verschiedenen Abschnitte mit verschiedenen Instrumentationen sind fast mystisch miteinander verbunden. Alles wirkt selbstverständlich. Nichts ist gesucht.“

Ab Mitte des letzten Jahrhunderts revolutionierte Astor Piazolla den Tango, indem er ihn aus der reinen Tanzmusik befreite und zu einer Kunstform erhob, die Elemente aus Klassik, Jazz und Avantgarde integrierte. Eines seiner bekanntesten und emotionalsten Werke ist ‚Oblivion‘. Kurt Ernst: „Zu Beginn ein Bandoneonton, wie aus einer fernen Welt, wie aus dem Nichts. Das Bandoneon ist denn auch der ‘Star’ in diesem Stück. Im Vordergrund steht nicht Virtuosität, sondern der Klang. Die Melodielinie ist spärlich, die Begleitung des Orchesters dezent. Was für ein Schmerz! Das ganze Stück ruht auf einem im p gehaltenen Pizzicato des Basses. Eine unglaubliche Ruhe durchzieht Oblivion. Kein Vorwärtsdrängen, kein Beat wie in Cumparsita. Ein Innehalten, ein Träumen. Eine kompositorische Perle. Aber: Zum Tanzen kein richtiger Tango. Die Melodielinien müssen erlebt und erlitten werden. Showfiguren sind hier nicht gefragt. Der Tanz wird zu einem körperlichen Gespräch zwischen zwei Menschen.“

An einer Milonga, der Tango-Tanzveranstaltung, werden drei oder vier Stücke hintereinander gespielt. Mit dem Verklingen des letzten Tones halten die Tanzenden in Ihrer Bewegung inne und lösen sich sanft aus der Umarmung.

Drei Mal drei Minuten des Glücks
Loslassen, Auseinandergehen
Aufwachen aus dem Traum
Ankommen in der Wirklichkeit

© Bernadette Gisler
Bild erstellt mit KI (ChatGPT)